Eine Einführung von

 Elvira Meisel-Kemper

Kunsthistorikerin und Journalistin / Ahaus

zur Ausstellung "Menschen und Monster"

des Kaktus Kulturforums In der Burg Lüdinghausen

 

Bei einem Spaziergang in der Wüste trifft Jesus einen alten Mann. Auf die Frage, was der alte Mann so allein in der Wüste mache, antwortet dieser, dass er seinen Sohn suche. Wie er denn aussähe, fragt Jesus. Der Mann antwortet: „Er hat Nägel durch Hände und Füße.“ Jesus ruft aus: „Vater!“. Der Mann antwortet: „Pinocchio“.

Keine Angst, meine Damen und Herren, ich möchte Sie mit dieser Geschichte nicht daran erinnern, dass Ihre Anwesenheit zur Eröffnung der Ausstellung von Udo Unkel sie heute daran hindern könnte, in die Messe oder in den Gottesdienst zu gehen. Es ist vielmehr eine Geschichte, die uns der Künstler höchstpersönlich in Worten und im plastischen Bild erzählt.  Sie finden diesen Pinocchio mit dieser Geschichte in der Ausstellung. Unverkennbar ist die lange, vergoldete Nase, die zu einem ausgemergelten, dünnen Menschen aus sandgestrahlten Stahl gehört.  Mit Blasphemie oder Gotteslästerei hat das ebenfalls nichts zu tun, sondern mit einer großen Portion Humor und beständiger Hinterfragung, wo unsere Werte geblieben sind, die uns geformt und begleitet haben.

Der Mensch ist das hauptsächliche Thema des Künstlers, sein Leben und seine Vergänglichkeit. Er konterkariert das mit schriftlichen Botschaften wie dieser Geschichte. Der Künstler schreibt sie nicht einfach als Geschichte auf und hängt sie neben die plastische Arbeit. Er gestaltet die Geschichte als Abreißgeschichte, wie wir es bei Kaufangeboten in Supermärkten oder bei Wohnungsangeboten in Hochschulen kennen.

In der Figur des Mannes offenbart sich nicht nur die typische Machart in der Technik, die  sich Herr Unkel  selbst beigebracht hat, sondern auch der Stil, der seine Figuren wiedererkennbar und einmalig macht. Der Künstler hat das Handwerk der Steinbildhauerei gelernt, bevor er an der Fachhochschule Dortmund das Studium als Diplomobjektdesigner 1999 abschloss. In Dortmund ließ er sich als freier Künstler nieder. Reiner Zufall ist, dass er 1966 in Lüdinghausen geboren wurde.

Diese und andere Skulpturen sind aus Stahl, die er sandgestrahlt hat. Stilistisch sind seine Figuren ein Hauch von Volumen. Sie wirken zerrissen, zerbrechlich und ungeheuer filigran und dennoch trifft uns die Wucht der Aussage. Es gibt Skulpturen, die sitzen auf einer Bombe aus Holz. Andere stehen in einem Boot und rudern irgendwohin, vielleicht ein entferntes und modernes Sinnbild für Dantes Göttliche Komödie. Das Renaissancewerk schildert die Reise durch die Hölle. Auguste Rodin und andere Künstler nahmen sie in gewaltigen, vielteiligen Kunstwerken zum Vorbild. Nur, was macht Herr Unkel daraus? Er separiert, er seziert oder – anders ausgedrückt – er erzählt mit seinen Werken einzelne Geschichten unserer Zeit, die ebenfalls die Hölle – oder weltlicher ausgedrückt – die Schattenseiten unseres modernen Lebens darstellen.

Der Künstler ist ein Sammler, der im Internet Dinge findet und ersteigert, die in seine künstlerischen Arbeiten einfließen. Alte Dosen sind ein Sammelgebiet, aber auch Kinderspielzeug, Tierknochen, Fotos und Militaria. „Ich habe Ideen im Kopf, ich sammle dazu und setze sie um. Mir geht es immer ums Thema, nicht darum, Skulpturen zu machen“, gestand der Künstler bei meinem Besuch in seinem Atelier in Dortmund. Werkstatt wäre das richtigere Wort, denn auf einer Werkbank fügt er die Dinge zusammen, die er dafür zusammen getragen hat oder  er lässt die Stahlfiguren entstehen.

 

Neben den Menschen interessiert sich Herr Unkel auch für „Monster“. Das finden Sie bereits im Titel dieser Ausstellung angegeben. Was sind Monster im allgemeinen Verständnis? Sie durchziehen Sagen, Märchen und Legenden. Sie wurden als Erziehungsmittel in früheren Zeiten eingesetzt. In heutiger Zeit gibt es auch liebenswerte Monster, die in Zeichentrickfilmen über die Kinoleinwände flimmern. Monster sind auch hier hässliche Wesen zwischen Mensch und Tier.

 

Die Monster aus Herrn Unkels Werkstatt sind das Ergebnis der Lust an physikalischen Experimenten. Trotz ihres Materialmixes aus Tierknochen, Alltagsgegenständen oder Kinderspielzeug sind es bewegliche Monster, von denen man keine Alpträume bekommt. Im Gegenteil. Sie verleiten zum Schmunzeln, vor allem dann, wenn man die englischen Texte dazu liest. Selbst die Stelle, an der man das Monster per Knopfdruck in Bewegung versetzen kann, ist beschriftet. Häufig befindet sich dieser Mechanismus aus Schalter,  Batterien und Kabeln in einer der alten Dosen, die Herr Unkel dafür gesammelt hat.

 

Mit einer dritten Richtung in seiner Kunst berührt er die kriegerische Seite, die in jedem Menschen stecken könnte. 12 Helme russischer Soldaten des Zweiten Weltkriegs goss er aus Beton, drapierte sie auf russischem Mutterboden in vier Dreierreihen wie bei einem Aufmarsch und betitelte sie wie das gleichnamige Computerspiel „Struggle for Russia, free download“. Vor dem Hintergrund des Ukraine-Konflikts überkommt den Betrachter eine Gänsehaut. Unkel machte daraus eine Bodenarbeit, die den Betrachter von oben auf die Arbeit schauen lässt. Krieg in unserer Gegenwart, die uns wie den antiken Ikarus zum Absturz bringt????

Herr Unkel regt einmal mehr zum Nachdenken an. „Ich bin kein Moralist, ich stelle nur fest“, verriet mir Herr Unkel bei meinem Atelierbesuch. Was ist er dann? Er ist ein Mensch, der den Menschen beobachtet und ihm mit Hilfe seiner Kunst, seine Schwächen aufzeigt, mal mehr, mal weniger humorvoll.

Darüber hinaus ist Herr Unkel kein reiner Bildhauer, der plastisch, dreidimensional arbeitet, sondern er denkt und arbeitet in Zusammenhängen. Fotos stellt er Skulpturen gegenüber. Es sind häufig Fotos aus den letzten beiden Weltkriegen, die er ebenfalls im Internet ausfindig gemacht hat. Die daraus entstandenen Installationen werfen Fragen auf. Wer waren diese Menschen? Haben sie den Menschen getötet, dessen Schädel sie in der Hand halten? Es sind Fragen, die auch der Künstler nicht beantworten kann, da  die Personen auf den Fotos auch für ihn anonym geblieben sind.

Sie entzünden ein Kopfkino beim Betrachter, das wieder  Fragen nach Geburt und Tod, nach Geist und Seele, nach Intellekt und purer Grausamkeit aufwerfen. Die Monster von Herrn Unkel machen es uns buchstäblich vor. Sind es wahre Monster, so wie wir sie kennen, oder ist nicht auch der Mensch trotz seines angenehmeren Aussehens das wahre Monster???

Mit dieser Frage entlasse ich Sie ohne Antwort in die Ausstellung.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und viele neue Erkenntnisse in der Ausstellung!